Außerordentliche Leistungen

Zu all den „Prästationen" (Leistungen), die auch die umliegenden Orte - allerdings nicht in dem Maße wie Gerlingen - leisten mussten, kamen für Gerlingen noch außerordentliche hinzu: Wo Menschen leben, müssen sie auch geistlich betreut werden. Dazu holte sich der Herzog den ihm am ehesten geeignet erscheinenden Pfarrer, den Repetenten vom Stift in Tübingen, Magister Christian Ludwig Pfeilsticker, 1768 nach Gerlingen und versetzte kurzerhand den erst 1766 in Gerlingen aufgezogenen Pfarrer M. Schlotterbeck nach Weissach.
Pfarrer Pfeilsticker wurde zum Hofstaatsprediger ernannt und musste, laut seinem Bericht an den Dekan, "an Sonn-, Fest- und Feyertagen sowohl zu Gerlingen als auf der Solitude Predigt und Kinderlehre ... letzteren Orts, für beede Cultus zusammen ... von 9-11 Uhr halten, außerdem donnerstags von 10-11 Uhr noch Betstunde."
Wer predigte dann in Gerlingen? Anfangs versuchte Pfarrer Pfeilsticker die ganze Last auf sich zu nehmen. Er selbst schreibt von „seiner gedoppelten Amtslast." Er erhält dann zwar einen „Vicar", die Gemeinde aber klagt bald, dass er diesem zuviel überlasse. Nach dem Vorhalt des Dekans "hat er Versprochen, so Viel möglich dieser Klage abzuhelfen."
1770 wurde auf der Solitude das „Haus für Militairwaisen" eröffnet, 1771 in die „militairische Pflanzschule" umgewandelt, 1773 in die „Militairakademie", in die nur sehr begabte Schüler, zum Teil vom Adel, aber auch viele Bürgerliche des Landes sowie Mömpelgarder aus der damals zum Herzogtum Württemberg gehörenden Stadt in Frankreich, die heute Montbeliard heißt, aufgenommen wurden.
Auch Friedrich Schiller zählte zu den Schülern. Schon 1772 war unter großen Zeremonien der Grundstein für ein neues Erziehungsgebäude gelegt worden. Es war dies am Sonntag Quasimodogeniti, an dem deshalb der Gottesdienst auf „exprehsen Befehl" ausfiel, wie es im Pfarrbericht heißt.
1773 lebten auf der Solitude 724 Personen. Es waren dies 346 Kommunikanten (Erwachsene), 232 Catechumen (Schüler), 25 Infantes (Kinder), 115 Pontificii (Katholiken) und 6 Reformierte.
Im selben Jahr wurde die Konfirmation, am Sonntag XVIII nach Trinitatis mit 52 Eleven der Herzogl. Militärschule auf der Solitude gehalten. "Die meisten, insonderheit viele Mömpelgardter, waren über 14 Jahre alt, durch eine vierteljährige Privatunterweisung sämtl. dazu tüchtig gemacht", schreibt Pfarrer Pfeilsticker, der jeden Tag eine Religionsstunde bei diesen angehenden Konfirmanden halten musste.
Ein anderes, viel schwerwiegenderes Problem kam auf die Gemeinde Gerlingen 1772 zu. Darüber schreibt Pfarrer Pfeilsticker in seinem „Vorbericht zum Todtenregister für die Gemeinde auf der Solitude", dass durch den Zuzug vieler Soldaten und Arbeiter auf die Solitude und nach Gerlingen die Einwohnerzahl zugenommen hätte. So wurde der "um die Kirche herum gelegene und kaum eineinhalb Viertel Plazes (12 ar) in sich bergende Kirchhof zu Görlingen, welcher Ort der Solitude selbst am allernächsten gelegen ist, natürlicher Weise durch die von diesen neuen Ankömmlingen stark vermehrte Anzahl Todten, die sämtl. darauf begraben wurden, nach und nach so stark angefüllt, daß man in einem Zeitraum von 10 Jahren denselben völlig umgraben mußte."
Die Gerlinger baten deshalb den Kirchenrat um Abhilfe, "wie dem Mangel des Plazes ... auf eine friedliche Weise abgeholfen werden könnte. Vorgeschlagen wurde zu solchem Endzweck l Stück Plazes von Ihrer Markung entweder auf dem Rappenberg oder Schloßrhein freywillig und unentgeltlich herzugeben. Sie berichteten diesen ihren gefassten Beschluss nebst einem beygelegten ... Überschlag an einen herzogl. Kirchenrath ... Nun beläuft sich freylich der Bauüberschlag, worinnen auf die Umgebung eines halben Morgens Plazes mit einer Mauer, und auf ein ordentliches Schirmhäuschen mit einem zum Einheizen gerichteten Stübchen,auf 725 f und da die Commun Görlingen nicht verpflichtet zu sein erachtete, an diesen Baukosten etwas zu leiden, weil der neue Kirchhof nicht für sie dürfte bestimmt werden, und also die ganze Last auf herzogl. Kirchenrath transferiren wollte: so lief auf Ihr dießfalls gemachte gnädigste Vorstellung ... der kirchenrätliche Befehl ein ... worinnen zu erkennen gegeben wurde, daß jegliche Commun selbsten für ihre Begräbnißorte zu sorgen habe ... und der herzogl. Kirchenrat weder die Last des Bauwesens noch der künftigen Conservation dieses neuen Kirchhofs auf sich nehmen zu wiße und daher auch den Bauüberschlag wieder zurückgehen lasse."
Auf diesen abschlägigen Bescheid wandten sich die Gerlinger an den Herzog selbst und baten ihn, er möge auf den Kirchenrat einwirken, „da für sie keine Verpflichtung bestehe, die Last zu übernehmen." "Serenissimus verwendet sich auch in Gnaden wirklich bey vermeldten Collegio durch einen Gnädigsten Befehl... doch erreichte er nur, daß der Kirchenrat 150 f bewilligte. Da nun besagte Summe nicht einmal zur Umgebung eines Viertel Plazes mit einer Mauer hinreichend war, so erlangten die Communvorsteher ... auf einige eingegebene Suppliquen (Bitten), daß 1. nur ein Viertel Plazes statt eines halben Morgens gewählt..., 2. daß der Platz statt ummauert zu werden, mit einem tüchtigen auf steinernen Platten und ziegelsteinerne Säulen gesezten Bretterzaun ... umgeben werden dürfe, wozu ihnen über die bereits angezeigte Summe von 150 f... noch weiteres eine Collecte in einigen Städten und Ämtern des Landes gnädigst angewiesen wurde, die sich auf 90f26x belief, sodaß also die ganze zur Erbauung eines neuen Solitude-Kirchhofs erlangte Geldsumme betrug 248f26x." Soweit Pfarrer Pfeilsticker in seinem im Jahr 1774 angefangenen Totenbuch der Solitude.
Was im Gerlinger Totenbuch besonders auffällt, ist die außerordentlich große Kindersterblichkeit bei den Arbeitssoldaten auf der Solitude. Hier müssen die hygienischen Verhältnisse besonders schlecht gewesen sein. Unter neun Toten der Solitude des Jahres 1766 waren sieben Kinder. 1765 waren es dreizehn Beerdigungen, vier Erwachsene und neun Kinder. 1767 starben vierzehn Kinder, kein Erwachsener. 1772 wurden in Gerlingen 61 Personen beerdigt, davon zehn von der Solitude: drei Erwachsene, sieben Kinder und Knaben der militärischen Pflanzschule.
Nachstehend noch einige Auszüge aus dem Gerlinger Totenbuch: "Am 1. Mai starb an den Blattern Pfarrers Sohn Theodor Eberhard Roy zu Allenjoe in der Grafschaft Möm-pelgardt, ein Mitglied in der militairischen Pflanzschule, und wurde den 3. darauf unter Begleitung einiger Cameraden und Zweyer Aufseher ohne weitere Ceremonien auf den hiesigen Gottesacker gebracht. 11 Jahre alt... Am 23. November 1771 gefiel es dem Herrn über Leben und Tod, ein hoffnungsvolles Mitglied der Gesellschaft Von Cavalliers- und Offizierssöhnen in der Herzogl. Militairischen Pflanzschule den Hochwohlgebohrenen jungen Freyherrn Johann Friedrich Wilhelm von Gemmingen auf Hornberg, einen einzigen Junker Sr. Reichsfreyherrlichen Gnaden Herrn Wilhelm Ludwigs von Gemmingen auf Hornberg, Freyherrn von Babstadt, Dautenzell und einiger Nieder-Rheinischer Güter, nachdem der selbige Zuvor an einem Wurm- und Fäulnißfieber beschwerlich darnieder gelegen, durch einen seligen Tod zu sich in die freudenvolle Ewigkeit aufzunehmen. Auf ausdrücklichen Befehl Sr. Herzoglichen Durchlaucht wurde derselbige standesgemäß, und zwar in der allhießigen Kirche hinter dem Altar zwischem diesem und dem Kreuz unter dem Taufstein begraben, und Pastor hielt eine Standrede, bei welcher Worte 1. Kor. IX 24, 25 zu Grunde gelegt wurden. Alter 9 Jahre weniger 1 Woche."
Ein besonders tragischer Eintrag: "Am 21. April 1772 Mittags um 4 Uhr starb an starkem Verbluten und Verkalten nach einem gehabten unglücklichen Zufall Jungfer Friedrika, Herrn Professoris M. Johann Friedrich Jahnens älteste Jungfer Tochter, und wurde den 23. darauf Abends auf einem Trauerwagen hieher gebracht, und nach einer kurzen Christlichen Einsegnungsrede Pastoris in ihr Grab eingesenkt. Ihr Alter war 17 Jahre." Zwei Tage zuvor hatte sie einem Knaben das Leben geschenkt, der den Namen Carl erhielt. Der Vater war allem Vermuten nach der Herzog.
1794, als die Solitude zum Spital geworden war, wurde der Friedhof auf dem „Rappenberg" zu klein. Ein neuer musste angelegt werden, und zwar im Wald, nahe der Solitude. Heute erinnert noch der „Gräberweg" im „Hahnenbühl" an ihn. Der heutige kleine Soldatenfriedhof an der Straße nach Weilimdorf wurde erst 1866, während des preußisch-österreichischen Feldzugs, angelegt.
Erfreulicheres ist aus dem Taufund aus dem Ehebuch zu berichten. 1772 wurden vom Pfarrer 21 Kinder von der Solitude und den Arbeitskommandos getauft; 1773: 23, 1774: 18, 1776: 7, 1777: 10, 1788: 5, 1790: 3, 1794: 0. Im Taufbuch sind auch etliche uneheliche Geburten eingetragen. Als Väter werden genannt: Mousquetiere und Husaren von der Solitude.
Geheiratet haben von der Solitude nur wenige; die meisten kamen schon verheiratet dorthin. Die wenigen Trauungen wurden in der Gerlinger Kirche vollzogen. Aus dem Ehebuch sei nur eine davon herausgegriffen: "Am 6. Juni 1769 wurden bey gehaltener Hochzeitsrede im Altar copulirt: Herr Ellas Knoblauch, Hofschreiner auf der Herzogl. Solitude, Herr Elias Knoblauchen Burgers und Stadt Todtengräbers zu Hirschberg in Schlesien ehel. lediger Sohn, und mit ihm Dorothea weyl. Sebastian Baders Bürgerl. Innwohners, Maurers und Steinhauers allhier ledige Tochter. PS. XXXVII, 5."
Der Hofschreiner Herr Ellas Knoblauch musste zuvor ein Heiratsgesuch an den Herzog richten, das erhalten geblieben ist: "Euer Herzogl. Durchlaucht haben vor allbereits 4 Jahren gnädigst geruht, mir unterthänigsten Supplicanten (Bittsteller) die unverdiente Herzogl. Gnade zu erweisen und mich auf der Herzogl. Solitude als Hofschreiner gnädigst anzunehmen, darbey aber auch zugleich die huldreichste Versicherung hinzugethan, zu meiner etwaigen Verheiratung gnädigst einzuwilligen. Da sich nun wirklich in Gelingen dißfalls eine gute Gelegenheit vor mich zeiget, wo ich mich auf eine convenable Weise etabliren könnte. Alß erkühne ich mich Euer Durchlaucht unterthänigst zu bitten, Höchstdieselbe gnädigst geruhen wollten zu dieser vorseienden Manage gnädigste Concession zu ertheilen. Ich werde auch die Herzogl. Gnade mit dem devotesten Dank Lebenslänglich veneriren und mit dem profundesten Respect ersterben. Unterthänigst gehorsamst Elias Knoblauch."